Prof. Jörg Vogel

Die wichtigsten Klassen bakterieller nichtkodierender RNA sind nur für einige wenige Arten bekannt. Die RNA-Biologie der überwiegenden Mehrheit der für die menschliche Gesundheit wichtigen Mikroben ist also noch unerforscht. Die Nutzung von RNA als programmierbares Antibiotikum zur Behandlung bakterieller Infektionen und des Ungleichgewicht der Mikrobiota, z.B: nach Antibiotikagabe (Dysbiose), erfordert ein umfassendes Verständnis der wichtigsten RNA-basierten Signalwege und Mechanismen in diesen Spezies. Im Laufe der Jahre haben wir Methoden entwickelt, die auf der Tiefensequenzierung von RNA basieren, wie Differential RNA-seq (Sharma et. A. 2010 Nature) oder Dual RNA-seq (Westermann et al. 2016 Nature) So lässt sich verstehen, welche und wann RNAs im Verlauf einer Infektion produziert werden. Darüber hinaus können wir mit Grad-seq (Smirnov et al. 2016 PNAS) nun potenziell alle zellulären Transkripte auf unvoreingenommene Weise auf der Grundlage ihres biochemischen Verhaltens klassifizieren. Mit diesen Ansätzen beginnen wir, den gesamten Kosmos der nicht-kodierenden RNA-Funktionen im menschlichen Mikrobiom zu erfassen.

Nicht-kodierende RNA-Moleküle interagieren in der Regel mit RNA-bindenden Proteinen (RBPs), um in der Zelle funktionsfähig zu werden. Durch jahrzehntelange Arbeit in Eukaryonten haben sich RBPs als eine Säule der posttranskriptionellen Genkontrolle etabliert. Es gibt hunderte, womöglich tausende von ihnen in Wirbeltieren, Wirbellosen und Hefezellen – paradoxerweise wissen wir relativ wenig über die Anzahl der RBPs und die Mechanismen, nach denen sie in den Organismen funktionieren, die am einfachsten zu analysieren scheinen: Bakterien. Obwohl Bakterien die Genexpression weitgehend auf der RNA-Ebene regulieren, bleibt unser Wissen über globale RBPs auf das kleine RNA-Chaperon Hfq und den translatorischen Repressor CsrA beschränkt. Die zunehmende Evidenz, einschließlich der zufälligen Entdeckung von CRISPR-Cas-Systemen, legt jedoch nahe, dass viele RBPs vor allem bei weniger gut untersuchten Mikroben noch entdeckt werden müssen.

Die Arbeitsgruppe hat das „osmoregulatorische" Protein ProQ als ein neues, umfassend vorhandenes RBP entdeckt, das hunderte von zellulären RNAs in Salmonellen und E. coli bindet (Smirnov et al., PNAS 2016), darunter verschiedene kleinere RNAs. Die Ergebnisse für ProQ deuten auf neue molekulare Mechanismen der bakteriellen Genkontrolle an mRNA-3'-Enden und ein neuartiges regulatorisches Netzwerk hin, bei dem ProQ die RNA-Struktur und nicht die Primärsequenz erkennt (Smirnov et al. 2017 EMBO J Holmqvist et al. 2018 Molecular Cell). Das Labor befasst sich auch mit den grundlegenden Prinzipien der RNA-Erkennung. Es gilt zu verstehen, wie Mitglieder dieser RBP-Familie die FinO-Domäne entweder für hochspezifische oder globale RNA-Erkennung in derselben zellulären Umgebung nutzen. In Fortführung der RBP-Entdeckung wird nun das Mikrobiom für neue RBPs erforscht.

Die Entwicklung der Einzelzell-RNA-Sequenzierung (Einzelzell-RNA-seq) ermöglicht es, die Genexpressionsprofile einzelner Zellen und nicht nur ganzer Zellpopulationen zu beschreiben. Dieser Durchbruch hat binnen kurzer Zeit unseren Blick auf viele Aspekte der Biologie tiefgreifend verändert. Nicht zuletzt wurden neue Zelltypen und -funktionen entdeckt. Die Einzelzell-RNA-seq entwickelt sich aktuell zu einem leistungsfähigen Werkzeug zur Bestimmung der Variabilität zwischen einzelnen Zellen in der bakteriellen Pathogenese, doch technische Probleme beschränkten ihre Verwendung bisher auf die Analyse eukaryotischer Transkriptome. In diesem Zusammenhang hat die Arbeitsgruppe zum Beispiel untersucht, wie unterschiedliches intrazelluläres Wachstum von Salmonellen den Polarisationszustand einzelner infizierter Makrophagen beeinflusst (Saliba et al. 2016 Nature Microbiology). 

Die große Herausforderung besteht darin, die Einzelzell-RNA-Sequenzierung für Bakterien vollständig zu etablieren, was gegenwärtig durch die geringen Mengen zellulärer RNA und das Fehlen eines PolyA-Schwanzes für einfaches cDNA-Priming wie bei Eukaryonten behindert wird. Transkriptome von Einzelbakterien werden in Zukunft Einblicke in die Grundlagen der phänotypischen Resistenz gegen Antibiotika-Behandlung und der stochastischen Persister-Bildung und der phänotypischen Diversifikation geben. Diese Phänomene grundlegend zu verstehen ist unabdingbare Voraussetzung für die erfolgreiche Behandlung bakterieller Infektionen. Es Die Erfassung bakterieller Einzelzell-Transkriptome bedeutet gleichzeitig den nächsten Schritt hin zur Entwicklung von Einzelzell-Dual-RNA-seq, um gleichzeitig individuelle Wirt-Pathogen-Interaktionen zu untersuchen. Über die einfache Einzelzell-Transkriptomik hinaus ist es unser langfristiges Ziel, robuste Methoden für die routinemäßige Hochdurchsatz-RNA-Biochemie zu entwickeln, um die posttranskriptionelle Kontrolle in einzelnen Bakterienzellen zu untersuchen.

Unser Körper ist von einer Vielzahl von Bakterien besiedelt, die zusammen das menschliche Mikrobiom bilden. Allein der Darm beherbergt mehr als 1.000 Bakterienarten. Das Verständnis ihrer individuellen oder synergistischen Beiträge zur menschlichen Gesundheit und Krankheit erfordert ein Werkzeug, mit dem wir in ihre Funktionen auf der Ebene der Spezies eingreifen können, und zwar mit einer Selektivität, die mit den derzeit verfügbaren Antibiotika nicht möglich ist.
 
Langfristiges Ziel des Labors ist die präzise Manipulation des menschlichen Mikrobioms mit „programmierbaren Antibiotika“ in Form von RNA-gesteuerten Antisense-Oligonukleotiden (ASOs). Dieser Ansatz kann als Alternative zu Standardantibiotika auch zur Bekämpfung antibiotikaresistenter Krankheitserreger verfolgt werden. Die ASOs sind dabei an kleine Peptide gekoppelt, mit denen sie von Bakterien aufgenommen werden, um dort die mRNAs essenzieller Gene „stillzulegen“. Es gibt bereits einen Grundsatzbeweis (proof-of-principle), der die Funktionalität dieses vielversprechende Konzept in seinen Grundzügen bestätigt, aber es bleiben noch viele offene Fragen. Was ist nötig, um diese ASOs wirklich artspezifisch zu machen; wie können wir potenzielle Nebeneffekte minimieren; welches sind die wirksamsten Peptide für die Aufnahme in Bakterien; welche Rolle spielen die Immunabwehrreaktion des Wirts und bakterielle Resistenzmechanismen? Da es wahrscheinlich keine Patentlösung für alle Arten im Mikrobiom geben wird, kann dieses Projekt nur gelingen, wenn komplementäres Fachwissen aus der RNA-Biologie, Mikrobiologie, Immunologie, Einzelzellbiologie und Pharmazie vereint werden.